Vita PD Dr. Katja Makhotina

• 1999 – 2002 Studium der Neuen Geschichte an der Staatlichen Universität St. Petersburg, Fakultät der Geschichtswissenschaften.
• 2002 – 2006 Studium der Neueren und Neuesten Geschichte in Karlsruhe (TU Karlsruhe) und Bohemistik an der Universität Regensburg; B.A.-Abschluss.
• 2006 – 2008 Masterstudiengang Elitestudiengang Osteuropastudien (Fächer: Osteuropäische Geschichte, Politikwissenschaft) an der LMU München, M.A.-Abschluss mit Abschlussnote 1,13.
• 2008 – 2010 Lehrbeauftragte an der Ludwigs-Maximilians-Universität München.
• 2011 – 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Abteilung für Geschichte Ost- und Südosteuropas der LMU München.
• 2012 – 2016 assoziiertes Mitglied der Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien.
• 2013 – 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Redaktion der Deutsch-Russischen Historikerkommission am Institut für Zeitgeschichte (München).
• 2008 – 2014 Arbeit am Promotionsprojekt: „Fragmentierte Erinnerungen: Der Zweite Weltkrieg in sowjetischen und postsowjetischen Erinnerungskulturen Litauens“
• Januar 2015 Abschluss der Promotion mit summa cum laude.
• 2015 – 2016 Leitung des Projekts „Kriegsgedenken als Event“ (zusammen mit Dr. Mischa Gabowitsch und Dr. Cordula Gdaniec).
• 2016 – 2022 wissenschaftliche Assistenz an der Abteilung für Geschichte Osteuropas der Universität Bonn (mit Unterbrechung für Elternzeit 2020-2021)
• 2022 – 2023 Vertretung des Lehrstuhls für Osteuropäische Geschichte an der Universität Bonn
• Februar 2023 Einreichung der Habilitationsschrift “Korrektur der Seele: Klöster als multifunktionale Räume der Verwahrung im Russland des 18. Jahrhunderts“
• Ab April 2023 Postdoctoral fellow am Bonn Center for Dependency and Slavery Studies
• Ab September 2023 Karriereförderstipendiatin der Universität Erfurt
• Ab Oktober 2023 Vertretung der Professur für die Neuere Geschichte Osteuropas an der Universität Göttingen

Forschungsprojekt

Laboratorien des Gewissens. Gewissensgerichte als transkonfessionelles und transkulturelles Phänomen im Russischen Kaiserreich 1775 - 1866.

Im Zeitalter des Absolutismus entwickelte sich in Russland - ebenso wie in Westeuropa - ein System von Institutionen, die Delinquenten mit Freiheitsentzug straften und zugleich auch polizeiliche und karitative Aufgaben übernahmen. Der Diskurs über die Strafe war nun nicht auf öffentliche Körperstrafe aus, sondern auf die Besserung des Gewissens der Delinquenten. Um diesen Wandel zu erklären, führte die bisherige Forschung die humanistischen Vorstellungen von Menschenwürde und Naturrecht an, für die Katharina II. und ihr Hof empfänglich waren. Sicherlich hatte die Philosophie der Aufklärung die moralphilosophischen Überlegungen der Kaiserin zu Strafreformen inspiriert, und die Folge davon waren u.a. ihre Gefängnisprojekte (1787), die Etablierung der Arbeits- und Zuchthäuser sowie der Gewissensgerichte (1775). Doch die Normsetzung, die sich an die Ideale der weltlichen Tugendlehre orientierte, entsprach nicht unbedingt einer Normumsetzung in einer sehr traditionellen, volksgläubischen, ländlichen Gesellschaft.
Der Ausgangspunkt für die Forschungsfrage liegt in der Erkenntnis meines Habilitationsprojektes „Korrektur der Seele: Klöster als multifunktionale Räume der Verwahrung im Russland des 18. Jahrhunderts“: War die Praxis der Einsperrung in den Klostergefängnissen zunächst eine Art Strafe, entwickelte sie sich im Laufe des 18. Jahrhunderts zur Praxis der Besserung, in deren Zentrum die Annahme des Schuldbewusstseins, die Culpabilisation, steht. Es ist nicht mehr die Seele, die es vor der Hölle zu retten gibt, und es ist nicht mehr die Furcht vor weltlichen Strafe, sondern das Gewissen, das „gereinigt“ werden soll. Diese Verbindung zwischen Gewissen und Strafe ergibt eine besondere Relevanz des Projektes: Die Abschaffung der Folter als Ermittlungsmethode brachte die Obrigkeit dazu, mehr mit anderen Formen der Wahrheitsfindung zu improvisieren.
Mit der Implementierung der Erziehung zum „guten Christen“ und zum „guten Bürger“ war die orthodoxe Geistlichkeit betraut, die in ihrer Praxis an das vertraute, bekannte, verständliche der orthodoxen Tradition anknüpfte und sich an die Wünsche der Gemeinde orientierte. Die inhaltliche Inspiration für ihre moralischen Predigten schöpften die wichtigsten „aufgeklärte Geistliche“ des 18. Jahrhunderts (Platon Levschin, Tichon Zadonski, Gavriil Petrov) von Protestanten und vor allem Pietisten Brandenburg-Preußens, die im Russland des 18. Jahrhunderts entweder als Staatsbeamte oder an der 1725 gegründeten Akademie der Wissenschaften dienten.
Zur Paradoxie der Adaption des weltlichen Gewissensdiskurses in Russland gehört allerdings, dass er durch die orthodoxen Geistlichen vermittelt wurde, die wiederum an den jesuitischen Schulen Rutheniens (Gebieten der heutigen Ukraine) ausgebildet wurden. Die ruthenischen Geistlichen wie Petro Mohyla und Innokentij Gizel (17. Jahrhundert) oder Feofan Prokopovich (18. Jahrhundert) adaptierten für die russische Orthodoxe Kirche das, was sie als aktuell als politisch notwendig betrachteten.
In Bezug auf die Aspekte der sozialen Kontrolle und der sozialen Fürsorge übernahmen die kirchlichen Hierarchen jedoch einen pietistischen Diskurs. Die Universität in Halle und die Stiftungen August Hermann Franckes waren zentrale Orte des Studiums und der Beobachtung des wissenschaftlich orientierten reformatorischen Glaubens. Die Kirchenhierarchen wurden in ihren Predigten und Originalschriften oft selbst zu Übersetzern der pietistischen Werke – und Werte.
Auch die Gewissensgerichte, geschaffen 1775, um die Gouvernements-Gerichte zu entlasten, entstanden als eine Melange aus englischem und ruthenischem Recht, – der englischen courts of equity und des „Kodex, nach dem das malorossische Volk gerichtet wird“, der im 18. Jahrhundert in Gluchov zusammengestellt wurde.[1] Die „Richter des Gewissens“ legitimierten ihre Urteile nicht nur mit den Instruktionen der „barmherzigen Kaiserin“, sondern auch mit den moraltheologischen Lehren der Zeit, die ihnen aus den veröffentlichten Predigten der wichtigsten Geistlichen bekannt waren, — und sprachen viel humanere Strafen aus, als die Kirche (Synod) oder weltliche Obrigkeit. Die Richtpraxis der Gewissensgerichte kann als ein Phänomen der Verweltlichung der geistlichen Gewalt und der Spiritualisierung der weltlichen Gewalt gesehen werden. Diese aus niederen Ständen bestehenden Instanzen übernahmen Fälle, die vorher der Rechtsprechung der Kirche oblagen, wie ungewolltes Töten, Ehebruch, Unzucht, Zauberei und urteilten in ihrer Bewertung der Schuldfähigkeit des Menschen viel milder als die Kirche oder der Staat. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Gewissensrichter rückte der menschliche Verstand und der freie Wille zur Überschreitung der Norm.
Zugleich wurde nicht nur der moralisch-philosophische Diskurs des Gewissens aus dem Westen adaptiert, sondern auch das Phänomen der Devianz, der „Andersartigkeit“. Zusammen mit den Diskursen der „Norm“ übernahm man auch Diskurse der sozialen Gefahr, für die nun der Staat sich in Zuständigkeit sah. Das bedeutete Entwicklung des Diskurses um die „Tollen“, – der „Melancholie“ und „Hypochondrie“, – und führte zur Verschärfung des Umgangs mit den Armen (i.e. „Müßiggängern“), Häretikern und Landstreicher. Die Arbeit wurde als Mittel der Besserung der Menschen deklariert, und das Prinzip der sozialen Nützlichkeit, verankert im Zuchthaus (rabotnyj dom), ersetzte nominell die körperliche Strafe durch die Technik der Askese und des frommen Tageswerks.
Der russländische Kontext wird noch mal komplexer durch das imperiale Gefüge des russischen Kaiserreichs, das sich seit den 1720er Jahren nach Osten und Westen expandierte. Das Gewissen musste auch für Nicht-Christen ansprechbar sein: für polnische Juden und für Muslime, für Völker der Naturreligionen und für Atheisten. Der universelle Anspruch des Gewissens richtete sich auf die Akkulturation der gesamten Bevölkerung des entstehenden Imperiums.
Der russische Gewissensdiskurs hat für das „lange“ 18. Jahrhundert somit eine Vielfalt an kulturellen Bezügen. Das Projekt möchte die Geschichte des Gewissensdiskurses und der Gewissensgerichte jenseits der strukturalistischen binären Opposition Ost vs. West und jenseits der üblichen Chronologie, die die Aufklärung als Anfangspunkt für Erziehungsprojekte begreift, untersuchen. Gewissensgeschichte im Russischen Kaiserreich des 18. und des 19. Jahrhunderts soll als eine histoire croisée, als transkonfessionelle und transkulturelle Verflechtung erzählt werden. So fragt das Projekt nach der Entstehung des Begriffes und nach seiner Verortung in verschiedenen kulturellen Räumen. Ferner soll die Genese des Begriffes und seine Funktionen für die Staats- und Kirchenzucht sowie für das soziale Miteinander untersucht werden.
Das Gewissen bekam auch eine gesellschaftliche Dimension: Die Eingaben der Untertanen an die lokalen Polizeibehörden forderten eine Disziplinierung des familiären Störenfrieds. Das „Gesetz der öffentlichen Meinung oder des Rufes“ (John Locke) wurde zu einer neuen Reflexionsebene. So übte die Gesellschaft selbst ihre alltäglichen Korrekturen. Die Eingaben der russischen Untertanen argumentierten mit dem Schuldbekenntnis und mit der öffentlich ausgetragenen Reue, um die Freilassung des Familienmitglieds anzufragen.
Gewissensgerichte, sind als Instanzen, in denen Autoritäten und Hierarchien kleiner ausgeprägt war, unabdingbar für das Verständnis des historischen Wandels.
Diese diskursiven Änderungen prägten die weitere Geschichte der Entwicklung des Gefängniswesens im russischen Kaiserreich des 19. Jahrhunderts.