Politischer Aktivismus und politische Abstinenz. Zum Verhalten einer städtischen Bevölkerung in der Revolution 1848/49

Gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1995-1998)

Untersuchungen über die politische Bewegung in der Revolution 1848/49 befassen sich in der Regel mit denjenigen, die organisiert sind oder sich politisch zu Wort melden. Die Gruppen der Passiven und Stummen, der Nichtwähler oder Unwilligen kommen selten in den Blick, obwohl sie für die politische Entwicklung nicht weniger relevant sind. Das vorliegende Projekt hat den Vorteil, beide Gruppen zu erfassen, die politisch Aktiven und die Passiven sowie auch die Bedingungen und Veränderungen ihres jeweiligen Verhaltens. Untersucht wird eine ganze städtische Bevölkerung auf der Basis von Individualdaten und einer personenzentrierten Verknüpfung serieller Quellen. Zudem baut das Projekt auf den Ergebnissen einer Analyse des vormärzlichen Wahlverhaltens (i.e. der individuellen Wahlentscheidungen in 12 Wahlen) und der damit verbundenen Formierungsprozesse auf. Ziel des Vorhabens ist es, Kontinuitäten und Brüche im Verhalten von Gruppen und einzelnen Personen im Übergang vom Vormärz zur Revolution und während der Jahre 1848/49 zu untersuchen. Dabei interessiert sowohl die Entwicklung der politischen "Parteibildung" als auch das Verhalten jener Gruppen, die bereits im Vormärz nur gelegentlich oder gar nicht politisch aktiv wurden. Kritisch beleuchtet wird die These der Fundamentalpolitisierung, denn das im Vorprojekt untersuchte Wahlverhalten zeigt bereits, daß sich bestimmte Gruppen 1848 eher aus der Politik zurückzogen. Es geht also um den Prozeß der Politisierung und um basale Muster der Partizipation wie z.B. um das Verhältnis von institutionsorientiertem Handeln (Wahlen, Vereinsorganisation) und locker strukturierten Aktionsformen (Petitionen oder Protest). Gefragt wird, welche sozialen und politischen Gruppen welche Handlungsebenen wählten, wie sich Gruppenbildungs- und Spaltungsprozesse in der Revolutionszeit auf individueller Ebene vollzogen, wie verhaltensrelevant die 1848/49 neuentstandenen politischen Organisationen waren, welche Gruppen sich intensiv engagierten und welche überhaupt nicht oder nur punktuell mobilisierbar waren. Am Ende des Projekts steht eine Analyse der Logik individuellen und kollektiven Verhaltens in der Revolution 1848 sowie ein Datensatz, der die Erstellung politischer Biographien von Einzelpersonen und Gruppen ermöglicht. Ausgangsbasis der Untersuchungen ist eine bereits erstellte Stadtrekonstitution, d.h. eine Datenbank, die mit der Esslinger Kernstadt und ihren Filialen rund 4770 erwachsene Personen (Einwohner ca. 13.000) umfaßt. Das Projekt arbeitet mit dem vom Max-Planck-Institut für Geschichte entwickelten Programmsystem Κλείω und mit SPSS. Die Kooperation mit PD Dr. Lothar Krempel vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Köln, der ein Programm zur Visualisierung von Netzwerken entwickelt hat, erlaubt zudem, die bestehenden Verbindungen zwischen den Akteuren in all ihrer Komplexität und Dichte graphisch als Netz darzustellen.

Leitung:

Prof. Dr. Carola Lipp

Weitere Informationen:
Forschungsprojekt: Wechselbeziehungen von politischer Kultur, generativem Verhalten und Verwandtschaft in einer Stadt des frühen 19. Jahrhunderts.
Forschungsprojekt: Lokales Milieu und politische Kultur im Vormärz und in der Revolution 1848/49“ (DFG, bewilligt 1993)